Ist die Geldbörse partout nicht zu finden, findet eine Suche nach einem anderen Muster oder durch eine andere Person das verloren geglaubte Stück im Normalfall in einer bis dato unbekannten Falte des Tagesrucksacks – aktuell jedoch: Fehlanzeige. Es ist wirklich weg.
Ich erinnere mich, in der Inari Station noch ein Automatengetränk gezogen zu haben, und zähle im Kopf gleichzeitig all die Dinge auf, die jetzt zu beachten sind und eine Zeitlang nerven werden (Karten sperren, neuen Führerschein besorgen, ein paar Hundert Euro weg… und ein richtig entspannter Tag wird das nicht). Ich frage mich, ob man mich anhand der Dinge im Portemonnaie in Kyoto ausfindig machen kann. Man könnte: die Karte vom Ryokan steckt drin, und Visitenkarten mit meiner Emailadresse. Japaner sind sehr viel ehrlicher und anständiger als wir Deutsche, also gibt es Hoffnung.
Wir rekonstruieren den Ablauf an sich irrelevanter Ereignisse. Ich erinnere mich, meine Geldbörse im Zug aus der Hosentasche in den Rucksack verlagert zu haben. Ein nachvollziehbarer Vorgang von geringer Komplexität. Wir suchen den Weg innerhalb des Bahnhofs ab, und ich finde immerhin den kleinen Berlinplan, der Teil meines Geschenkekontingents ist und eigentlich auf dem Fußboden eines japanischen Bahnhofs nichts zu suchen hat (ohnehin liegt praktisch nie kein Müll nirgendwo an keiner Stelle des Inselreiches). Das deutet auf einen offenen Reißverschluss hin, und darauf, dass sich vielleicht Plan und Börse zeitgleich aus dem Staub gemacht haben. Es lohnt sich also, am Stationsschalter nachzufragen, wie immer gestikulierend.
Der junge Mann fragt nach meinem Namen, ich nenne ihn, er fragt noch einmal, ich artikuliere ihn langsam und deutlich, aber wieder einmal zeigt sich, dass „Olaf Schreiber“ für die japanische Zunge keine einfache Kost ist. Ich soll ihn dann aufschreiben – das passt. Er verschwindet mit dem Zettel in den Hinterraum, diskutiert mit einem Kollegen, und kommt mit meinem Portemonnaie zurück. Nicht nur wegen der 38 Grad im Schatten bin ich inzwischen nassgeschwitzt und mache einen erbarmungswürdigen Eindruck. Ich schaue hinein – alles da. Kein Cent fehlt. Ein Formular muss ich unterschreiben, das ist alles. Keine Möglichkeit, ein materielles Dankeschön loszuwerden. Keine hinterlegte Adresse für einen Finderlohn, und meine mehrfach angebotene, als Geschenk verpackte Schokolade lehnen die Schaffner lächelnd, aber bestimmt ab. Immerhin freuen sie sich, mich erleichtert und dankbar (mit mehreren Kotaus) zu erleben.
Herr Takada meint später, in Japan würden 90% aller verlorenen Geldbörsen wieder den Weg zurück zum Besitzer finden. Eine echte zivilisatorische Qualität – hier sind die Japaner wahrscheinlich jedem anderen Land der Welt überlegen.